11/30/2014 — Wolf Wetzel
Offener Brief der NebenklagevertreterInnen im NSU-Prozess an den Ex-Bundesinnenminister Otto Schily
Der SPD-Innenminister Otto Schily hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass die Aufklärung des neonazistischen Terroranschlages in Köln 2004 faktenfrei ins ›kriminelle Milieu‹ abgeschoben wurde. Das führte nicht nur dazu, dass die Familienangehörigen der zweiundzwanzig z.T. schwer verletzten Opfer selbst als Verdächtige verfolgt wurden. Dies hatte auch zur Konsequenz, dass eine mögliche Verfahrensübernahme durch die Bundesanwaltschaft in Karsruhe hintertrieben, Beweisen und Zeugenaussagen nicht nachgegangen wurde, die bereits 2004 zu Mitgliedern des NSU geführt hätten.
Der Nagelbombenanschlag in Köln unterscheidet sich von allen anderen Terroranschlägen, die dem NSU zugeschrieben werden, durch eine gravierende Besonderheit. Im Gegensatz zu allen anderen Tatorten gab es in Köln einen unbestechlichen, von keinen Erinnerungen und Widersprüchen getrübten Beweis, dass die Behauptung von einer (ausländischen) Milieutat mit Vorsatz die Suche nach den Tätern behinderte bzw. verhinderte: Es existiert ein Video vom Tathergang, samt Täter. Als dieses Video dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin vorgespielt wurde, war der Ex-Polizeibeamte und für die CDU im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA sitzende Clemenz Binninger kaum noch zu halten: ›Näher kann man einem Täter nicht sein! Ich sage das als ehemaliger Polizist: So nah, wie Sie den Tätern waren, kommt man als Ermittler den Tätern nie wieder!‹ (zitiert nach: Mely Kiyak, FR vom 20.7.2012)
Gerade dann, wenn man weder für Neonazis noch Rassisten etwas übrig hat, dann sollte man einen Blick auf die vier Fotos werfen, die aus dem Videofilm extrahiert wurden: Wieviel Ähnlichkeit haben die beiden männlichen Personen mit den NSU-Mitgliedern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die die Anklage für die Attentäter hält? Auch wenn es sich viele wünschen würden, die Ähnlichkeit ist alles andere als signikant! Um das sicherer einzugrenzen, gibt es zahlreiche kriminaltechnische Mittel, u.a. die Gesichtserkennung. Warum gibt es bis heute keinen einzigen Nachweis darüber, zu welchen Wahrscheinlichkeitsprognosen ein solches Programm geführt hat? Auch die Größe der Täter ließe sich sehr exakt eingrenzen, wenn man den Standort der Videokamera kennt, was hier zutrifft: Welche Größe hatten die beiden Täter und stimmt sie mit den beiden toten NSU-Mitgliedern überein?
Nun zum Offenen Brief:
»Sehr geehrter Herr Bundesminister a.D. Schily,
mit Empörung haben die Initiative ›Keupstraße ist überall‹ und die unterzeichnenden Nebenklagevertreter im NSU-Verfahren die von Ihnen erwirkte ›Klarstellung‹ im Kölner Stadt-Anzeiger vom 10.11.2014 zur Kenntnis genommen.
Dort heißt es unter anderem:
Herr Schily weist zu Recht darauf hin, dass er seinerzeit ein rechtsextremistisches Motiv nicht ausgeschlossen, sondern zum Sachverhalt lediglich Folgendes erklärt hat: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu. Aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, sodass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann.“ Herr Schily weist ferner mit Recht darauf hin, dass den Sicherheitsbehörden zum damaligen Zeitpunkt die Existenz einer terroristischen rechtsradikalen Gruppe nicht bekannt war und dass sich daher der Ausdruck ›terroristischer Hintergrund‹ in seiner Erklärung eindeutig ausschließlich auf den ›islamistischen Terrorismus‹ bezogen hat.
Die in der ›Klarstellung‹ gegenüber dem Stadtanzeiger nicht kommentierte Behauptung, die ›Erkenntnisse … [der] Sicherheitsbehörden … deuten auf ein kriminelles Milieu‹ hin, war damals falsch und ist es heute. Dementsprechend waren Sie als Zeuge vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss am 15.3.2013 auch nicht in der Lage mitzuteilen, worin diese ›Erkenntnisse‹ bestanden haben sollen. Richtig ist vielmehr, dass die Sicherheitsbehörden ohne tatsächliche Grundlage und auf Weisung ›von oben‹ unterstellten, dass gegen Migranten gerichtete Straftaten ihre Ursache nur im sogenannten kriminellen Milieu haben könnten. Gerade weil es keinerlei Hinweise auf einen solchen kriminellen Hintergrund gab, hätte sich den Ermittlungsbehörden eine rechtsterroristische Tat schon zum damaligen Zeitpunkt aufdrängen müssen. Auch das nordrhein-westfälische LKA bezeichnete den Anschlag zunächst als ›terroristische Gewaltkriminalität‹, bevor dieser Begriff auf Anweisung aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen wurde. Auch das wissen Sie. Uns entsetzt Ihr ganz neuer Rechtfertigungsversuch, Ihr damaliges Bestreiten eines terroristischen Hintergrundes habe nicht dem Rechtsterrorismus gegolten, sondern es sei ›eindeutig ausschließlich der islamistische Terrorismus‹ gemeint gewesen. Eine solche ›Erklärung‹ haben Sie nicht einmal im Bundestagsuntersuchungsausschuss abgegeben. Diese widerspricht auch Ihrer eigenen Aussage im Rahmen einer Pressekonferenz vom April 2012, wonach Ihre damalige Einschätzung ein ›schwerwiegender Irrtum‹ gewesen sei.
Es ist ein billiger Trick, wenn Sie aufgrund der aktuellen Medienpräsenz des islamistischen Terrorismus versuchen so zu tun, als sei der Rechtsterrorismus in Deutschland erst mit dem NSU aufgetreten und Terrorismus ansonsten stets islamistisch. Das widerspricht sogar den damaligen Erkenntnissen des Ihnen unterstellten Bundesamtes für Verfassungsschutz, welches immerhin eine eigene Abteilung Rechtsterrorismus unterhielt. Sie perpetuieren jenen Rassismus, unter dem die Opfer des NSU schon viel zu lange gelitten haben, um sich selbst und die deutschen Sicherheitsbehörden von jedem Fehlverhalten rein zu waschen. Sie beweisen, dass Sie trotz der Erkenntnisse diverser Untersuchungsausschüsse und der anhaltenden öffentlichen Debatten nichts gelernt haben.
Die von Ihnen 2012 erklärte Übernahme politischer Verantwortung setzt voraus, dass Sie einsehen, was Sie mit Ihrer durch nichts gerechtfertigten öffentlichen Erklärung vom 10.06.2004 in Gang gesetzt haben. Sie tragen eine erhebliche politische Mitverantwortung dafür, dass von den Ermittlungsbehörden anschließend Hinweise auf rechtsextreme Täter unbeachtet blieben, dass selbst als bereits bekannt war, dass der Bombenleger vermutlich kein Migrant war, verdeckte Ermittler in der Keupstraße eingesetzt wurden, um herauszufinden, welche Migranten den Täter beauftragt hätten. Anwohner, die den Verdacht eines rechtsradikalen Hintergrundes äußerten, wurden von Polizeibeamten zum Schweigen verpflichtet. Es ist überfällig, dass Sie ohne Wenn und Aber zu Ihrer Rolle im NSU-Skandal stehen.
UnterzeichnerInnen:
Rechtsanwalt Alkan | Rechtsanwältin Basay-Yildiz | Rechtsanwalt Prof. Behnke | Rechtsanwalt Bogazkaya | Rechtsanwältin Clemm | Rechtsanwalt Dr. Daimagüler | Rechtsanwalt Dr. Elberling | Rechtsanwalt Erdal | Rechtsanwalt Fresenius | Rechtsanwältin Hartmann | Rechtsanwalt Heising | Rechtsanwalt Hoffmann | Rechtsanwalt Ilius | Rechtsanwalt Kara | Rechtsanwältin Kerdi-Elvan | Rechtsanwalt Kolloge | Rechtsanwalt Kuhn | Rechtsanwältin Lex | Rechtsanwältin Lunnebach | Rechtsanwalt Narin | Rechtsanwalt Parlayan | Rechtsanwalt Rabe | Rechtsanwalt Reinecke | Rechtsanwalt Sariyar | Rechtsanwalt Scharmer | Rechtsanwalt Schön | Rechtsanwalt Sfatkidis | Rechtsanwalt Sidiropoulus | Rechtsanwalt Dr. Stolle | Rechtsanwalt Ünlücay
Quelle: Rechtsanwalt Alexander Hoffmann und Rechtsanwalt Dr. Björn Elberling
Ein Recherche zu dem Terroranschlag in Köln am 9. Juni 2004 findet sich hier:
Nagelbombenanschlag in Köln 2004
Wolf Wetzel
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2013, 2. Auflage